Wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber und Veröffentlichung von eklatanten Mängeln in dessen Pflegeeinrichtung fristlos entlassen und von der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms IALANA und der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW mit dem „Whistleblower Preis 2007“ ausgezeichnet – die Geschichte der Altenpflegerin Brigitte Heinisch[1] zeigt exemplarisch die Fallen, in die couragierte und engagierte Arbeitnehmer/innen fallen können, wenn ihre Arbeitgeber durch Mängel in der Betriebsorganisation, gewollte oder geduldete Personalknappheit und schlechte Arbeitsbedingungen nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Dritte gefährden. Vom LAG Berlin bestätigt durfte der Arbeitgeber, ein großes Pflegeunternehmen in Berlin, fristlos kündigen, obwohl die behaupteten Mängel in einen Gutachten des medizinischen Dienstes bestätigt wurden. Für dieses Urteil musste das LAG trotz mannhafter Verteidigung durch den Vizepräsidenten Binkert[2] heftige Schelte einstecken, weil es die Beweislast eindeutig zu Lasten der Klägerin verteilte[3].
Auch die letzten Ereignisse im Rahmen des Gammelfleischskandals wären ohne den aufmerksamen LKW-Fahrer, der sich zur Strafanzeige entschloss, wohl unentdeckt geblieben. Hat er also einfach nur Glück gehabt, weil er bei einer Spedition beschäftigt war und nicht beim Fleischhersteller?
„Whistleblowing“ bedeutet sinngemäß Alarm zu schlagen, wenn durch Fehlverhalten Schäden drohen. Hierzulande ist durchaus umstritten, ob die Einschaltung Dritter, also etwa der Aufsichts- oder Strafverfolgungsbehörden, zur Behebung von Mängeln im Betrieb zulässig ist oder einen Verstoß gegen die arbeitsvertragliche Treuepflicht darstellt.
Grund genug, sich die Vorgaben der Rechtsprechung zur Kündigung wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber einmal genauer anzusehen.
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
Der im Zusammenhang mit Strafanzeigen gegen Arbeitgeber in Bezug genommene Beschluss vom 2. Juli 2001 (- 1 BvR 2049/00) betraf einen Sachverhalt, bei welchem eine von Amts wegen aufgenommene Ermittlung dazu führte, dass ein Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Aussagen musste und in diesem Zusammenhang Unterlagen übergab. In diesem Fall war das – vom BVerfG aufgehobene – Urteil des LAG durch unzutreffende Sachverhaltswürdigung zu Lasten des Arbeitnehmers gegangen. Durch die vermeintlich freiwillige Übergabe von Unterlagen habe er seine Treuepflicht verletzt.
Dies sah das BVerfG anders, nämlich als Erfüllung staatsbürgerlicher Aufgaben, durch die ein zivilrechtlicher Nachteil nicht entstehen dürfe. Daher hielt es auch die Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte im Strafverfahren, d.h. auch die (begründete) Erstattung einer Strafanzeige kann - soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden - im Regelfall aus rechtsstaatlichen Gründen nicht dazu führen, daraus einen Grund für eine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses abzuleiten.
Hier lag der Knackpunkt der Entscheidungen im Fall Heinisch: Muss die Arbeitnehmerin nachweisen, dass ihre Strafanzeige begründet war oder muss der Arbeitgeber – wie sonst in jedem Kündigungsschutzprozess – hier beweisen, dass die erstattete Anzeige auf wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben beruhte und deshalb einen tauglichen Kündigungsgrund abgab?
Neuere Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts:
Schauen wir uns die beiden Urteile des BAG an, die nach dem BverfG-Beschluss zu diesem Problemkreis ergangen sind[4] (weitere Entscheidungen betrafen – erfolglose – Nichtzulassungsbeschwerden):
Dem Urteil vom 07.12.2006 - 2 AZR 400/05 – lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem einem Arbeitnehmer aus „windigen“ Gründen gekündigt worden war, nachdem er gegen die Vorsitzende des (gemeinnützigen) Vereins und deren als Geschäftsführer beschäftigten Ehemanns Strafanzeige erstattete, nachdem mehrfach private Verbindlichkeiten der beiden, u.a. eine Reise nach Bora-Bora, mit Vereinsgeldern beglichen wurden. Als mehrfach Lohnzahlungen sich verzögerten und schließlich ausblieben, erfolgte die Strafanzeige. Dass die beiden rechtskräftig verurteilt wurden, empfand das BAG zu Recht als nebensächlich, denn „Vor Gericht und auf hoher See…“ gilt auch im Strafprozess, und nicht jeder, dessen Verfahren eingestellt wird, ist unschuldig. Daher darf Erfolg oder Misserfolg einer Kündigungsschutzklage wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber nicht davon abhängen, ob diese zu einer Verurteilung führt oder nicht.
Dies ist bereits ein erster Anhaltspunkt dafür, dass ein Nachweis des Arbeitnehmers, dass seine Strafanzeige „begründet“ war, nicht zu führen ist.
Auch die betriebliche Stellung des Arbeitnehmers ist nicht ausschlaggebend. So verwarf das BAG die Einlassung der Arbeitgebervertreter, die Vorgänge gingen den Arbeitnehmer auf Grund seiner Stellung im Unternehmen ("schlichter Kraftfahrer") nichts an. Das staatsbürgerliche Recht zur Erstattung von Strafanzeigen besteht unabhängig von der beruflichen oder sonstigen Stellung und ihrer sozialen Bewertung durch den Arbeitgeber oder Dritte.
Damit ist klar: Der Arbeitnehmer darf eine Strafanzeige gegen den Arbeitgeber erstatten – nur wann?
Wenn er eine innerbetriebliche Klärung versucht hat. Allerdings erkannte das BAG in dieser Entscheidung die Sinnlosigkeit eines solchen Versuches, waren es doch die Organvertreterin des Arbeitgebers und ihr Geschäftsführer selbst, die die Straftaten begingen. Hier war nicht ernsthaft mit der Möglichkeit einer Verhaltensänderung zu rechnen.
Grundsätzlich kann aber eine kündigungsrelevante Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten vorliegen, wenn die innerbetriebliche Beilegung gar nicht erst versucht wird. Im Fall Heinisch war dies übrigens geschehen, diverse Überlastungsanzeigen und Gesprächsversuche mit Vorgesetzten hatten aber an den Missständen nichts geändert.
Eine Ausnahme von diesem Erfordernis des Versuchs der innerbetrieblichen Konfliktbeilegung nimmt das BAG an, wenn es sich bei den dem Arbeitgeber zur Last gelegten Vorfällen um schwerwiegende Vorwürfe handelt und die betreffenden Straftaten vom Arbeitgeber selbst begangen worden sind.
Die zweite Entscheidung des BAG, schon etwas älter, nämlich vom 3.7.2003 zum Aktenzeichen 5 AZR 235/01, enthält den folgenden Leitsatz:
Eine zur Kündigung berechtigende arbeitsvertragliche Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers liegt nicht nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer in einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber oder einen seiner Repräsentanten wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat. Eine kündigungsrelevante erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten kann sich im Zusammenhang mit der Erstattung einer Strafanzeige im Einzelfall auch aus anderen Umständen ergeben.
Festzuhalten ist zunächst, dass das BAG hier von „einer zur Kündigung berechtigenden … Pflichtverletzung“ spricht. Diese ist regelmäßig vom Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess zu beweisen. Dies heißt, der AG muss nachweisen, dass
- die Strafanzeige auf unwahren Behauptungen beruhte
- der Arbeitnehmer leichtfertig die von ihm zugrundegelegten Tatsachen nicht geprüft und deshalb falsche Angaben gemacht hat
- oder sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt, dass die Strafanzeige nicht in Verfolgung staatsbürgerlicher Rechte erfolgte.
Diese sonstigen Umstände stellten sich im entschiedenen (oder auch nicht: Die Sache wurde zu weiterer Sachverhaltsaufklärung an die Vorinstanz, das Hessische LAG zurückverwiesen) Fall so dar, dass der Arbeitnehmer, ein Sozialarbeiter in einer Kinder- und Jugendeinrichtung, mit seinem Vorgesetzten Auseinandersetzungen wegen seiner Arbeitszeit hatte. Als dieser ihn anwies, Arbeitspläne zu erstellen, erstattete der Prozessbevollmächtigte des Arbeitnehmers Strafanzeige „aus allen rechtlichen Gründen, insbesondere Veruntreuung von Geldern“, ohne den Namen des AN zu nennen und unter Beifügung von Rechnungskopien. Er behauptete, es seien Seminare abgerechnet worden, die nicht stattgefunden hätten und er hätte Berichte dafür schreiben müssen.
Der Arbeitgeber berief sich darauf, dass der AN seinem Vorgesetzten „eins auswischen“ wollte und dass die Übergabe der Rechnungen gegen den Tarifvertrag verstieße, der ein entsprechendes Verbot enthalte.
Das LAG, das übrigen die Darlegungs- und Beweislast beim Arbeitgeber sah, gewährte Kündigungsschutz. Das BAG fand die Beschränkung auf die Prüfung, ob die Anzeige auf unwahren Tatsachen oder leichtfertigen Behauptungen begründet wurde, nicht ausreichend und gab dem LAG auf, in einer weiteren Runde zu klären, ob „andere Umstände“ vorlägen, die eine Vertragsverletzung darstellten.
Hierzu meinte das BAG, das Bundesverfassungsgericht habe nur einen „Regelfall“ entschieden. Besondere Umstände könnten aber eine Kündigung rechtfertigen, weil sie ihrerseits nicht durch die Wahrnehmung verfassungsmässiger Rechte gedeckt seien. Dies sei auch vom Recht auf freie Meinungsäusserung, Art. 5 GG, gedeckt. Von diesem Recht sei allerdings eine anonyme Strafanzeige nicht gedeckt, da diese nicht die erforderliche geistige Auseinandersetzung kundtue, die eine Meinungsbildung voraussetze.
Insbesondere wenn, wie im Falle öffentlicher Zuwendungsempfänger, die Reputation des Arbeitgebers erhebliche wirtschaftliche Bedeutung hat, müsse der Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglichen Pflichten ernst nehmen und genau überlegen, wann er betriebliche Abläufe, geschützte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse an die Öffentlichkeit bringe. Wenn nicht der Arbeitgeber selbst (sondern ein Repräsentant oder Mitarbeiter) die Rechtsordnung verletze, könne auch nicht eingewendet werden, dass der Rechtsverletzer nicht unter dem Schutz der Verfassung stehe.
In diesem Rahmen sei die vertragliche Rücksichtnahme dahin zu konkretisieren, dass die Strafanzeige keine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers oder eines Repräsentanten sein dürfe. Die Gründe, aus denen ein Arbeitnehmer die Strafanzeige erstatte, seien hier bedeutsam.
Erstattet also ein Arbeitnehmer eine Strafanzeige, um seinen Arbeitgeber zu schädigen oder „fertig zu machen“, steht er nicht unter dem Schutz der Verfassung, sondern verhält sich rechtsmissbräuchlich. Indizien hierfür können
- Anlass der Anzeige
- Motivation des Arbeitnehmers
- fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf den Missstand
sein.
Bei dem innerbetrieblichen Hinweis ist zu berücksichtigen, dass, wie oben gesehen, dieser unzumutbar sein kann, insbesondere,
- wenn der Arbeitnehmer Kenntnis von Straftaten erhält, bei deren Nichtanzeige er sich selbst in Gefahr der Strafverfolgung bringt,
- bei schwerwiegenden Straftaten
- bei Straftaten des Arbeitgebers selbst
- wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist
Hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber auf die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen, sorgt dieser jedoch nicht für Abhilfe, besteht auch keine weitere vertragliche Rücksichtnahmepflicht mehr.
Wenn nicht der Arbeitgeber oder sein gesetzlicher Vertreter, sondern ein Mitarbeiter seine Pflichten verletzt oder strafbar handelt, erscheint es eher zumutbar, vom Arbeitnehmer - auch wenn ein Vorgesetzter betroffen ist - vor einer Anzeigenerstattung einen Hinweis an den Arbeitgeber zu verlangen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Pflichtwidrigkeiten handelt, die - auch - den Arbeitgeber selbst schädigen.
1. Mit der Erstattung einer Strafanzeige nimmt der Arbeitnehmer eine von Verfassungs wegen geforderte und von der Rechtsordnung erlaubte und gebilligte Möglichkeit der Rechtsverfolgung wahr
2. Dieses Recht kann mit arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten kollidieren.
3. Diese Kollision ist dahin aufzulösen, dass eine Strafanzeige gegen den Arbeitgeber dann keine Vertragsverletzung darstellt, wenn
- der Arbeitnehmer die Tatsachen, die er der Strafanzeige zugrundelegt, sorgfältig geprüft hat und zu dem Schluss kam, es handele sich um wahre Tatsachen, die einen Straftatbestand erfüllen
- er die Strafanzeige guten Glaubens und mit lauteren Motiven in Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten erstattete, d.h. zur Abwendung von Schäden und Einhaltung der Rechtsordnung,
- der Arbeitnehmer – soweit möglich und zumutbar – eine innerbetriebliche Klärung versucht hat.
4. Daher sollte jeder Arbeitnehmer, der eine Strafanzeige in Erwägung zieht,
- die konkreten Vorkommnisse so gut als möglich dokumentieren,
- Betriebs- und Personalrat und (mit einem Gremienvertreter) den Arbeitgeber, d.h. die Geschäftsleitung informieren und
- sich beraten lassen.
Heinrich Kemper
Bärbel Recknagel
[1] Dokumentiert auf www.menschenwuerdige-pflege.de
[2] Binkert, AuA 2007, S. 195
[3] Deisenroth, AuA 2007 S. 197, ders.
[4] zur früheren Entwicklung der Rechtsprechung s. den informativen Aufsatz von Müller, Whistleblowing – Ein Kündigungsgrund?, in: NZA 2002, 424